In seinem Morning Briefing vom 23. September 2021 berichtet Gabor Steingart vom stillen Streik der Fachkräfte. Damit meint er einen Arbeiterstreik, der in den Medien nicht als Streik erkannt wird, weil die Streikenden sich nicht wirklich und auch nicht aktiv zu Wort melden. Sie stellen keine Forderungen, sondern bleiben einfach der Arbeit fern.
Branchen werden ausgetrocknet.
Viele Branchen sind davon betroffen: Schulen, Gesundheitsberufe, Handwerksberufe, und: wie soll es anders sein, auch die Logistikbranche. Im Speditionsgewerbe fehlen 60.000 bis 80.000 LKW-Fahrer. Jährlich gehen 30.000 in Rente. Höchstens 15.000 Nachwuchskräfte sind zu verzeichnen. Dies wird in den kommenden zwei bis fünf Jahren zu einem Versorgungskollaps führen.
Halten wir fest:
Wir haben nicht nur Lieferengpässe aufgrund Material- und Güterknappheit. Durch den stillen Streik werden diese noch verstärkt. Selbst wenn es keine Material- und Güterknappheit aktuell geben würde – wer soll in den kommenden Jahren dafür sorgen, dass Angebot und Nachfrage sich treffen?
Gründe für diesen stillen Streik
Wer nach Gründen für dieses Verhalten sucht, braucht nicht lange zu suchen. Überall gibt es Lohndumping. Erst recht im Bereich der LKW-Fahrer. Unregelmäßige Arbeitszeiten, hoher körperlicher Arbeitseinsatz, niedrige / miserable Entlohnung. Hinzu kommt mangelndes soziales Ansehen aufgrund des zu geringen Verdienstes. Außerdem fehlen den LKW-Fahrern nachts Park- und damit Ruhemöglichkeiten aufgrund zu voller Rastplätze.
Geben Sie mal bei Google als Suchwort „Durchschnittgehalt LKW Fahrer“ ein.
Es erscheint folgendes Suchergebnis:
Ja, Sie sehen richtig! Das durchschnittliche Bruttojahresgehalts eines erfahrenen LKW Fahrers beträgt gerade mal 29400 Euro. Das entspricht einem monatlichen Bruttoverdients in Höhe von cirka 2.400 Euro.
In Steuerklasse I ohne Kind ergibt das ein monatliches Nettoeinkommen in Höhe von in etwa 1.640 Euro. In Steuerklasse III kommt als monatliches Nettogehalt cirka 1.870 Euro als Ergebnis.
Wie kann in diesem Bereich ein alleinverdienender Familienvater eine mehrköpfige Familie ernähren? Sehr wahrscheinlich muss ein solcher Arbeiter noch aufstockende Leistungen beim Jobcenter beantragen. Wenn er solche Leistungen erhält, dann bedeuted das letzendlich, dass er genausoviel hätte, wenn er nicht arbeiten ginge. Haben Sie sich schon einmal darüber Gedanken gemacht? Wenn nein, dann sollten Sie das jetzt tun. Es stellt sich die Frage: wieso Menschen überhaupt noch in diesem Beruf arbeiten sollten, wenn sie das das gleiche Geld hätten, als würden sie zuhause bleiben?
Kleiner Exkurs: Geringverdiener, bei denen das Gehalt nicht ausreicht den Lebensunterhalt zu bestreiten, haben die Möglichkeit, aufstockende Leistungen beim Jobcenter zu beantragen. Diese Leistungen gleichen den Minderlohn bis zum Mindestlohn aus. Dies obwohl ja der Mindestlohn bezahlt wird. Der eigentliche Mindestlohn reicht aber nicht aus, um eine mehrköpfige Familie zu ernähren. Man höre und staune. Aber es gibt viele Familien, die auf diese Leistungen angewiesen sind. Also: nicht jeder, der Geld vom Jobcenter bekommt, ist arbeitslos!
Wir müssen nicht lange warten. Wie gesagt in wenigen Jahren, wird es zum Versorgungskollaps kommen. Menschen wollen in diesem Bereich einfach nicht mehr arbeiten. Hygienefaktoren und Motivatoren sind nicht im Einklang.
Die 2-Faktoren Theorie von Frederick Irving Herzberg
Frederick Irving Herzberg war ein US-amerikanischer Professor für Arbeitswissenschaft und der klinischen Psychologie. Er ist der Begründer der 2-Faktoren-Theorie. In kurzen Worten besagt diese, dass Menschen aus verschiedenen Gründen arbeiten gehen. Wenn Hygienfaktoren und Motivatoren in Einklang sind, dann bestünde eine Arbeitszufriedenheit.
Als Hygienfaktor führt er in erster Linie die Höhe der Entlohnung an. Als Motivator die Anerkennung durch diese Arbeit. Wenn also beide in Einklang sind, dann besteht weitgehend Arbeitszufriedenheit und Menschen gehen gerne arbeiten.
Schauen wir uns nun die aktuelle Lage der LKW-Fahrer an: Es gibt keine Hygienefaktoren (die Entlohnung ist zu niedrig). Motivatoren gibt es auch nicht. Ganz im Gegenteil. LKW Fahrer ist ein sehr anspruchsvoller und stressiger Job. Lieferzeiten müssen eingehalten werden und auch rechtliche Gegebenheiten. Stets läuft der Fahrtenschreiber mit. Stets die Angst von der Polizei angehalten zu werden. Auch die Angst die Lieferzeit nicht einhalten zu können…
Hinzu kommen altersbedingte Berufskrankheiten, die so cirka im Alter von 48 bis 52 Jahren, manchmal auch früher, auftreten. Oftmals ist diese Berufsgruppe so dermaßen ausgepowert und gesundheitlich heruntergewirtschaftet, dass falls möglich, Frührente beantragt werden muss.
Eine Trendwende ist angesagt
Man kann es sich an ein paar Finger ablesen, dass in absehbarer Zeit keine Mitarbeiter mehr zu finden sind. Es sei denn: sie werden gut entlohnt.
Das Dilemma der Spedition: die Preise müssen steigen.
Aber wäre es nicht einen Versuch wert: Heute dafür sorgen, dass man morgen ausreichend Arbeitskräfte zur Verfügung hat? Eventuell wird jeder mutige Unternehmer, der dies wagt morgen damit belohnt, dass sich die Zahl der Mitbewerber reduziert.
Ein kleines disruptives Zukunfts-Gedanken-Szenario – Legen Sie Humankapital zinsbringend an
Stellen Sie sich folgende Situation vor: Sie sind der einzige Spediteur, der seinen Fahrern ein Gehalt bietet, mit dem diese gut leben können. Auf diese Weise könnten Sie sich aktuell noch die Fahrer aussuchen – nur die Besten! Sorgen Sie auch dafür, dass eine gute Berufsunfähigkeitsversicherung dabei ist und andere außergewöhnliche Sozialleistungen.
Ihre Mitbewerber können dann zwar billiger als Sie anbieten – aber nicht mehr fahren, weil sie keine Fahrer mehr haben. Sie dagegen pflegen Ihre Mitarbeiter. Diese sind froh und dankbar bei ihnen arbeiten zu dürfen. Was meinen Sie, wem ein Auftraggeber einen Auftrag gibt? Dem Billigen oder dem Teuren in diesem Fall? Die Frage ist selbstbeantwortend. Wenn der billige keine Fahrer mehr hat, kann er die Leistung nicht erbringen. Sie können Leistung erbringen, weil Sie ihre Fahrer gut bezahlen. Also werden logischerweise Sie den Auftrag erhalten.
Bieten Sie Ihren Fahrern:
- Ein gutes Gehalt
- Ansprechende Sozialleistungen
- Sorgen Sie für Anerkennung
Auf diese Weise legen Sie ihr Humankapital (also Ihre Mitarbeiter) zinsbringend an. Ihr Kapital versuchen Sie ja auch zinsbringend anzulegen. Bei Mitarbeitern wird das vergessen. Investieren Sie in Ihre Mitarbeiter. Diese werden es Ihnen mit Loyalität, Arbeitsbereitschaft, Motivation und Engagement danken – so pflegen Sie eine nachhaltige Personal- und Unternehmenspolitik.
Spätestens seit Corona hat die Logistik mehr an Beachtung gefunden. Hat man doch festgestellt, dass die vielen fleißigen Menschen, die in diesem Bereich arbeiten, sehr wichtig sind. Wenn hier nicht gearbeitet wird, bleiben die Regale leer. Oder es können keine Autos geliefert werden und vieles andere mehr. Eigentlich ist das eine gute Situation Preise neu zu definieren.
Die Digitalisierung in der Spedition
Wenn Fahrer nicht mehr fahren, bringt auch die Digitalisierung nichts. Zumindest so lange Lieferungen durch Drohnen oder andere automatische Fahrzeuge nicht erlaubt sind. Sie können digital die Versorgungsströme mit Gütern berechnen und optimieren. Wenn keine Fahrer da sind. Was dann? Dann bringen alle Berechnungen nichts.
Wenn die Ware fehlt, braucht man sich auch keine Gedanken mehr zu machen, logistische Prozesse innerhalb einer Unternehmung digital zu optimieren.
Ein weiteres kleines disruptives Gedanken-Szenario
Machen Sie sich unabhängig von Lieferanten und stellen Sie alles selbst her. Zugegeben. Auch das in sehr finanzintensiv. Aber auch hier gilt: wenn nicht mehr geliefert werden kann, bringen auch billige Preise nichts.
Ausblick
Lesen Sie nächsten Monat das Thema disruptive Marketingansätze in der Logistik.